Das menschliche Ausrufezeichen

14.01.2018




Zeit Online


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Von Matthias Lohre

Als sich sein Leben für immer verändert, macht Gregor Gysi vor 500.000 Menschen einen Scherz. Es ist der 4. November 1989. Der 41-Jährige klettert auf eine provisorische Bühne auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin. Der Mann im Trenchcoat zittert vor Nervosität, fürchtet ein staatlich angeordnetes Massaker wie auf dem Pekinger Tian'anmen-Platz wenige Monate zuvor. Dann spricht er seine ersten Worte ins Mikro: "Liebe Freunde, ich spreche eigentlich frei. Ich hab's mir diesmal aufgeschrieben, damit ich auch hinterher noch weiß, was ich gesagt habe." Die Menge lacht und ein Medienstar ist geboren.

Solche zeithistorischen Filmaufnahmen zählen zu den Stärken des 90-minütigen Porträts, das der MDR zwei Tage vor Gysis 70. Geburtstag am 16. Januar 2018 sendet. Dazu gehören auch Bilder einer Gesprächssendung des DDR-Fernsehens, aufgenommen zwei Tage nach der Demonstration auf dem Alexanderplatz. Gysi, zu dieser Zeit eine Art erster Anwalt des Landes, sitzt zwischen ratlos blickenden Funktionären und Generälen in Uniform und redet darüber, wie er den ostdeutschen Staat reformieren möchte. Schon damals spricht er direkt und frei von Funktionärsprosa.

Der schlichte Titel Gysi passt gleich in doppelter Hinsicht zu diesem Dokumentarfilm. Denn zum einen zeigen Nicola Graef und Florian Huber die Marke, zu der sich ihre Titelfigur bis heute konsequent stilisiert: Gysi, den gewandten und selbstsicheren Rhetoriker, der partout nicht ins verbreitete Bild vom wehleidigen Ostdeutschen passt. Gysi, das menschliche Ausrufezeichen.

Zum anderen geht es in Gysi immer wieder um zwei andere Träger dieses Namens: Irene und Klaus Gysi. Die Mutter hatte adlige Vorfahren, der Vater kam aus einer wohlhabenden Familie von Ärzten und Kaufleuten. Beide hatten einen jüdischen Elternteil. Obwohl das Liebespaar heimlich für die Kommunistische Partei arbeitete, überlebte es den Zweiten Weltkrieg am Rande Berlins. In der sowjetischen Besatzungszone und der jungen DDR stieg Klaus Gysi rasch auf, wurde 1966 sogar Kulturminister und 1973 Botschafter in Rom. Der redegewandte, klassisch gebildete Mann formte einen willkommenen Kontrast zu den kleinbürgerlich-spießigen SED-Funktionären. Ihren Kindern Gregor und Gabriele vermittelten die Gysis das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Roter Adel.

Der Film zeigt, wie Klaus Gysi, damals schon über 80 Jahre alt, 1994 eine Anekdote über seinen berühmten Sohn erzählt. Lakonischer Tonfall und Sprachrhythmus ähneln dem Gregors bis ins Detail. Der Vater, das arbeitet dieser Film deutlich heraus, war für seinen Sohn Vorbild und Last. Ausgerechnet der Untergang des Staates, für dessen Fortbestand der Ältere sein Leben lang arbeitete, bot dem Jüngeren schließlich die Chance zur Emanzipation.

Denn mit der 13-minütigen Rede auf dem Alexanderplatz beginnt Gregor Gysis Aufstieg zur letzten Hoffnung der SED. Zwar hatte die Staatspartei 1989 zwei Millionen Mitglieder und 44.000 Angestellte, aber nach dem Mauerfall am 9. November zerfiel sie rasend schnell. Auf einem Sonderparteitag am 8. Dezember 1989 sagte Gysi: "Wir brauchen einen vollständigen Bruch mit dem gescheiterten stalinistischen, das heißt administrativ-zentralistischen Sozialismus in unserem Land." Er will die Partei retten und die DDR reformieren. Geschickt inszenierte sich der Ministersohn dabei zum Hoffnungsträger, der mit der düsteren Vergangenheit nichts zu tun hat. Die einen werden ihn dafür lieben, die anderen hassen.[...]

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