Mit 16 in die Ferne
Wenn Schüler ins Ausland gehen
Noch eine Stunde bis zum Abflug: Linas Mutter drückt ihrer 16 jährigen Tochter schnell noch einen Kuschelbären in die Hand, ehe sie endgültig hinter dem Gate verschwindet. Zum Aufbruch in ein neues Leben. Fern der Heimat, fern der Familie, die vollzählig nebst Oma und Opa am Flughafen Hamburg erschienen ist, um ihrem „Linchen“ hinterher zu winken. Sechs Monate lang werden sie Lina nicht mehr sehen. Denn die Gymnasiastin wird das nächste halbe Jahr am Ende der Welt verbringen, in der Pampa in Südamerika. Weiter weg geht kaum. Das wird auch der Schülerin nun so richtig bewusst.
„Ich wollte ja immer mal weg. Habe mich beworben, habe sogar ein Stipendium bekommen. Dann kam endlich nach langem Warten die Zusage, der Brief und die Fotos der Gastfamilie. Und plötzlich hab ich furchtbar geweint, weil ich dachte, ich pack das nicht. So weit weg von zu Hause! Von Freunden und Partys, von meinem Hund. Und von meinen Eltern.“ Lina nimmt das Herzchenkissen, das ihr die Oma noch gehäkelt hat, und versucht im Flieger ein bisschen zu schlafen.
„Gleich nach der Ankunft überwiegt bei diesen Schülern das Heimweh, danach kommt eine Zeit, die ist meist von Euphorie geprägt, von den neuen Eindrücken“, sagt Frederike Moldenhauer von “Tauschaus“, der größten Schüleraustauschorganisation Deutschlands. „danach kommt dann oft der totale Absturz. Die Schüler realisieren, dass es erstmal kein Zurück mehr gibt. Vor allem Weihnachten ist für die meisten ziemlich schmerzhaft. Doch dann, einige Wochen später, haben die meisten schon wieder Angst vor dem Abschied, weil sie sich an ihr neues Leben gewöhnt haben.“
Linas Gastvater empfängt sein neues Familienmitglied am Flughafen mit einem Blumenstrauß. Die anderen Familienmitglieder sind alle draußen bei den Schafen. „Das ist für mich schon komisch. Dass ich nur so nebenher laufe und die Natur hier eine größere Rolle spielt als die Menschen.“
Abends gibt es dann doch ein gemeinsames Abendessen. Lina hat ihr erstes Schaf geschoren, ist ein bisschen stolz, müde und hungrig. Sie übergibt aber noch ihre Gastgeschenke und zeigt Fotos aus der Heimat. Erster Eindruck: die neue Familie ist ein bisschen chaotisch, aber sympathisch, doch die Verständigung, sehr schwierig, Lina spricht nur ein paar Brocken spanisch. In ihrem kleinen Dachzimmer mit Blick auf die Felder holt Lina abends ihren Teddy raus und muss dann doch erst einmal weinen. Zum Glück gibt es ja E-Mail. Sie schreibt eine lange Mail an ihre Eltern auf der anderen Erdkugel – nach Hause nach Bad Segeberg.
Ortswechsel. An einem großen Esstisch in einer Madrider Stadtwohnung sitzt eine Familie bei einer Paella. Alle Familienmitglieder sind schwarz haarig, nur einer nicht. Alex. Seit einer Woche ist er jetzt hier – und hätte nicht gedacht, dass auch er Heimweh haben könnte. „Ich hatte vorher ganz schön Stress zu Hause, mit meinen Alten. Aber, ich muss sagen, sie fehlen mir irgendwie. Ich hab werde sie heute Abend mal anrufen und von meiner neuen Heimat erzählen.“ Die neue Heimat, das ist eine Gastfamilie bestehend aus zwei Erwachsenen, vier Kindern und vielen Bildern.“ Denn die Gastmutter ist Malerin, der Vater Musiklehrer an der Schule. „Das ist ganz cool, ich war schon auf einem Konzert hier, aber der Unterschied nach zu Hause ist doch krass. Es ist viel konservativer als ich dachte, und alle sprechen so wahnsinnig schnell!“
Morgen wird Alex das erste Mal mit seinem Gastbruder Julio in die Schule gehen. In einer Uniform! Seine langen Haare, nein, die will er sich aber nicht abschneiden lassen, auf keinen Fall, obwohl alle Spanischen Jungen raspelkurze Haare tragen und einmal die Woche zum Frisur gehen.
„Die meisten Schüler kommen mit einem neuen Gefühl für die Heimat zurück, so unsere Erfahrung. Sie sind Teil einer neuen kulturellen Heimat geworden ohne ihre alte verloren zu haben und sehen nun viel mehr die positiven Seiten an Deutschland. Und – Sie haben ganz häufig mehr Verständnis für ihre Eltern. Die Schüler kommen selbstbewusster, aber auch selbstkritischer nach Hause und sind danach meist bereit für den Schritt ins Berufsleben,“ so Frederike Moldenhauer von AIS.
Austauschschüler erfahren, wie es sich aus ihrer Welt herausgelöst und eine andere hinein versetzt zu werden. Und dennoch – viele Lehrer und Schulen weigern sich, die deutschen Schüler zu ermutigen, für ein Jahr ins Ausland zu gehen. Eltern wiederum haben Angst, dass die Schüler hier den Anschluss verlieren. Und dennoch – ca. 12 000 Schüler wagen jedes Jahr den Sprung in die Ferne, Tendenz steigend! 25 % von ihnen geben vorzeitig auf. Die anderen kommen mit einem Sack von Erfahrungen und mit einem veränderten Blick auf die Welt zurück.