Filmkritik

26.10.2020




Björn Schneider, Programmkino.de


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Das Leben in der Hauptstadt Berlin steht, ebenso wie viele andere Millionenstädte, für etwas, über das viele Menschen nicht sprechen, obwohl sie ein und dasselbe Gefühl teilen: Die Einsamkeit. Was verbirgt sich wirklich hinter den (oft so perfekt und glattpoliert wirkenden) Fassaden der Großstadt? Wie sehr sind die Bewohner tatsächlich miteinander verbunden, wie gehen sie miteinander um? Und wie kann es sein, dass in dieser Stadt der Vielfalt und voller Möglichkeiten jede dritte Person alleine lebt? Diesen und weiteren Fragen geht Regisseurin Nicola Graef in ihrer Dokumentation „Eine einsame Stadt“ auf den Grund.

Fast 17 Millionen Singles gibt es in Deutschland und ein Großteil von ihnen lebt nicht freiwillig alleine. Die meisten suchen nach einer Partnerschaft, nach einer neuen Liebe, oder nach Anschluss. Sie sehnen sich nach Kontakten und zwischenmenschlicher Begegnung in einer digitalisierten Welt, in der viele von uns den Nachbarn vom Namen her nur kennen, weil man für ihn gelegentlich Pakete annimmt. So jemand, der sich nach Begegnung und neuen Bekanntschaften sehnt, ist Tessa. Eine junge Frau, die kurz vor Beginn ihres Studiums steht. Ohne Scheu und geradeheraus vertraut sie Regisseurin Graef ihre inneren Befindlichkeiten an.

„Einsamkeit ist schmerzhaft und laugt aus“, sagt sie und fasst gut zusammen, was ebenso die anderen Porträtierten empfinden. Von ihnen finden sich in dieser umsichtig und besonnen umgesetzten Doku gleich eine ganze Reihe. Sie entstammen unterschiedlichsten Alters- sowie Gesellschaftsgruppen und sie bilden auf authentische Weise unsere bunte, vielfältige Bevölkerung ab. Graefs Film zeigt damit: Das Single-Dasein macht vor niemandem Halt und kann jeden betreffen. Egal ob jung oder alt, ob alleinerziehende Mutter, Freiberufler, erfolgreicher Manager, Arbeitssuchender, Rentner oder Studentin.

Auch der 50-jährige Thomas lebt allein. 14 Jahre währte seine letzte Beziehung. Trotz seines mittlerweile etwas fortgeschrittenen Alters gibt er die Hoffnung nicht auf: „Es gibt für alles einen Markt. Selbst für kaputte Autos“, meint er und lächelt milde. Graef erzeugt Nähe und Intimität zu ihren Interviewten, indem sie diese im privaten Raum zeigt, im Alltag begleitet und damit sehr persönliche Einblicke gewährt. In der Wohnung, bei der Arbeit, beim Spaziergang oder Treffen mit Freunden. So ist Graef dabei, wenn sich die Single-Mama mit ihrer Freundin im Park über das oft sehr schwierige Leben ohne Partner unterhält. Dabei wirken die jeweils beobachteten Momente und Gesprächssituationen nie gestellt oder gekünstelt. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Protagonisten tiefes Vertrauen zu Graef gefasst haben. Sie öffnen sich der Regisseurin, die ihre Gesprächspartner gewähren lässt und nie unterbricht. Sie selbst greift quasi nie in das Geschehen ein, nur an einer Stelle hört man sie aus dem Off eine Frage stellen. Zudem ist „Eine einsame Stadt“ von einer großen Ehrlichkeit geprägt. Die Doku beschönigt nichts und porträtiert neben den hoffnungsvollen, positiv in die Zukunft blickenden Singles gleichfalls Personen, die von großer Schwermut und Melancholie durchzogen sind.

Dass man nicht unbedingt Single sein muss um sich alleine zu fühlen zeigt Wieslawa, die ihren Mann an die Demenz verliert und sich immer einsamer fühlt. Oder der 70-jährige Micha, der nach langen Beziehungen mit Anfang 70 die Zweisamkeit und Nähe schmerzlich vermisst. An seiner Wand hängen Bilder aus einem früheren Leben. Man sieht ihn als jungen Mann mit einer früheren Partnerin, mit Kindern und mit Freunden. Er offenbart einen weiteren Blickwinkel auf das Single-Dasein: auf das Alleinsein im Alter. Deshalb müsse man, so Micha, die Gegebenheiten hinnehmen können, sich demütig zeigen und das Leben als (älterer) Single auch akzeptieren lernen.

Björn Schneider

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