Kulturkampf im Klassenzimmer
21.07.2010
Frankfurter Allgemeine
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Was gehst du zu den Deutschen?
Die ARD zeigt heute das Porträt einer Parallelwelt: Eine Schule, an der Deutsche nur noch eine Minderheit sind, an der es auf dem Schulhof täglich hart zugeht und Lehrer angesichts verbohrter Vorurteile resignieren. Die Autorinnen Güner Balci und Nicola Graef zeigen das Verstehen und Nichtverstehen in einer Schulklasse, die inzwischen nicht nur für das Ruhrgebiet typisch geworden ist
Die Autorinnen Güner Balci und Nicola Graef zeigen das Verstehen und Nichtverstehen in einer Schulklasse, die inzwischen nicht nur für das Ruhrgebiet typisch geworden ist
- Juli 2010
Früher war alles anders, auch in den Schulen. Das klingt immer wieder an in diesem bemerkenswerten Film von Nicola Graef und Güner Y. Balci. Niemand sagt aber, es sei alles besser gewesen in Essen-Karnap. Damals, vor fast drei Jahrzehnten, als Brigitta Holford Lehrerin wurde an der hiesigen Hauptschule. Sie erzählt gleich zu Beginn, was anders war: Sie habe so gern unterrichtet, ihre deutschen und türkischen Schüler seien eine Gemeinschaft gewesen, es gab viele Freundschaften. Irgendwann begannen die Deutschen wegzuziehen. Irgendwann waren sie auch im Klassenzimmer die Minderheit, und seitdem geht es ziemlich hart zu, auf dem Schulhof und im Unterricht.
Brigitta Holford hat immer noch diese gutmütigen Augen, sie versucht immer noch das Äußerste, um ihren Schülern den besten Start ins Leben zu ermöglichen, aber man begreift recht schnell, dass ihr Posten ein verlorener ist. Die beiden Autorinnen verstehen es, in intensiven Gesprächen und Diskussionen, geführt über einen langen Zeitraum, die schwierige Situation zu zeigen, in der sich das Kollegium und die Schüler befinden. Es ist die Geschichte einer sich manifestierenden Intoleranz, an der alle Versuche der Pädagogen, sie aufzubrechen, abprallen. Anzeige Brutale Prügeleien und Beschimpfungen gehören zum Alltag Schüler aus Essen-Karnap: Wie behauptet man sich gegen Vorurteile und Schikanen?
Schüler aus Essen-Karnap: Wie behauptet man sich gegen Vorurteile und Schikanen?
Wer Prügel bezieht, bestimmt die Mehrheit, und die Mehrheit bestimmt, was üblich ist. Im Ramadan wird den Deutschen schon mal in die Suppe gespuckt, und wer aufmuckt, den erwarten die Brüder und Cousins vor dem Schultor. Also stehen die türkischen und arabischen Mädchen auf der einen Seite des Schulhofes, die Jungen auf der anderen - und die wenigen Deutschen drücken sich in eine Ecke, als gehörten sie nicht dazu. „Wir halten uns lieber zurück“, sagt ein Mädchen, nur so könne man das überleben. Sie berichten von brutalen Prügeleien und Beschimpfungen, von denen „Streber“ und „Deutsche schummeln immer“ noch die harmloseren sind. „Nazis“ und „Schlampen“ sind ernster gemeint, sie zielen auf Umgangsformen, die hierzulande eigentlich als selbstverständlich gelten: eine eigene Meinung haben und ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen.
Auch die verdruckste Art der muslimischen Schüler, über Sexualität zu reden, gipfelt immer wieder in üblen Beschimpfungen und grotesken Vorurteilen, in einer Verachtung, die alles Deutsche zu umfassen scheint. Immer wieder versuchen Lehrerinnen wie Brigitta Holford, diese Situation aufzubrechen. Ihre 10b ist eine Ausnahmeklasse an dieser Schule, fast alle wollen den Realschulabschluss schaffen und haben auch gute Chancen. Trotzdem ist eine Freundschaft wie die von Shirin und Anastasia die Ausnahme, gilt als unpassend. Die eine ist als Kind libanesischer Eltern in Deutschland geboren, die andere kam aus der Sowjetunion; Shirin muss sich immer wieder rechtfertigen bei ihren libanesischen Mitschülern. „Was gehst du zu den Deutschen?“, fragen die und verlangen, das Bündnis zu beenden. Der Stress in der Familie, sagt die kräftige Shirin, habe sich gelegt. Aber gegeben hat es ihn, weil Fraternisierung mit Angehörigen der Aufnahmegesellschaft, mit den Deutschen, offenbar als unschicklich gilt. „Wir müssen endlich offen darüber reden“
In einer Schulstunde wird darüber gestritten, wie man später leben will. Offen erzählen drei arabische Mädchen, wie sie verheiratet werden und dass es schön wäre, wenn der Vater für sie einen netten Mann aussuchte. „Einen, der mich nicht schlagen soll.“ Sie werden hinterher dafür beschimpft, man lässt sich nicht in die Karten gucken! Die Jungen finden, dass man Mädchen in Deutschland zu viele Freiheiten lässt; einer bekundet, er hasse es, wie die sich kleiden. Ein anderer spricht viel von Ehre und Respekt, zwei Begriffe, die zu erklären ihm aber die Worte fehlen. Kulturkampf im Klassenzimmer. Der Arabischlehrer aus dem Libanon tut sein Bestes, um seine Schüler für ein Miteinander und die Vorzüge der deutschen Gesellschaft zu erwärmen. Doch die Eltern beschweren sich, er solle sich nicht in „innere Angelegenheiten“ einmischen.
„Wir sind entsetzt, wie sich das immer mehr verschärft“, sagt Brigitta Holford. Sie musste lernen, ihren pädagogischen Anspruch zu verteidigen, gegen aufgebrachte Onkels, Väter, Brüder. Nicht jeder Lehrer bringe diese Kraft auf. Güner Balci und Nicola Graef ist mit diesem Film das ungewöhnliche Porträt einer parallelen Welt gelungen, die sich vor unseren Augen etabliert hat und gegen die wohl nur hilft, was die Lehrerin empfiehlt: „Wir müssen endlich offen darüber reden.“
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